Wirtschaftsnachrichten für Ärzte | ARZT & WIRTSCHAFT
Praxis

“Hören Sie doch einfach auf damit!“ Eine solche Aufforderung an Patienten oder Patientinnen wird oft nicht fruchten, selbst bei scheinbar leicht zu ändernden Lebensstil-Entscheidungen. Doch warum neigen einige Menschen wider besseres Wissen zu selbstschädigendem Verhalten? Warum können manche aus eigenem Antrieb ihre Gewohnheiten ändern, während andere kaum davon lassen können, selbst wenn gravierende Konsequenzen drohen oder sich bereits eingestellt haben? Das Verständnis hierzu ist der Schlüssel zur richtigen Ansprache der Betroffenen; und zur Einschätzung, ob und welche Hilfe benötigt wird. Steckt hinter dem riskanten Verhalten bloß ein schlichter Eskapismus, eine träge Art und Weise, dem eigenen Leben zu entfliehen statt es aktiv zu gestalten? Möglich ist das. Einem solchen Fall kann mit dem Aufzeigen klarer und machbarer Handlungsoptionen begegnet werden, in überschaubaren Schritten. Häufig ist die vermeintliche Trägheit aber nur die Spitze des Eisbergs.

Beispielsweise beim Alkohol: Bei dessen Missbrauch besteht oft eine Verbindung zu Angststörungen, die ein erhöhtes Verlangen nach der anxiolytischen Wirkung der Substanz mit sich bringen können. Teils spielt eine genetische Veranlagung eine Rolle. Frühkindlicher Stress und Traumafolgestörungen können die Entstehung von Alkoholismus fördern (Pandey 2003, Ponomarev 2013, Pandey und Palmisano 2018).

Beginnt der problematische Konsum in der Pubertät, so kann das lange Schatten werfen. Denn eine schwere und häufige Intoxikation mit Alkohol, aber auch mit Cannabis oder anderen Drogen, kann die Herausbildung wichtiger Hirnfunktionen beeinträchtigen (Tapert et al. 2010). Das betrifft sogar das Zigarettenrauchen. Letzteres führt zu einem kleineren ventromedialen präfrontalen Kortex (vmPFC), wenn es in jungen Jahren begonnen wird (Jia et al. 2023). Das beeinflusst die Emotionsregulation und Risikobereitschaft. In der Adoleszenz kommt es ohnehin zu einem Ungleichgewicht der bereits reiferen subkortikalen und der unreifen präfrontalen Hirnstrukturen. Die Entsprechung auf Verhaltensebene ist eine Neigung zu riskanten Entscheidungen, was sich leider auch auf das Risiko tödlicher Verletzungen auswirkt (Konrad, Firk, Uhlhaas 2013). In dieser Lebensphase wirkt die Umwelt stark prägend auf die Schaltkreise.

Ein schwieriger Start wirkt lange nach
Kinder, die emotionalem, psychischem, körperlichem oder sexuellem Missbrauch ausgesetzt waren, geraten als Erwachsene leicht in einen traumatischen Wiederholungskreislauf mit missbrauchenden Partnern. Abnormale Wachstums- und Entwicklungsmuster im Gehirn des Kindes können zu lebenslangen Problemen mit der Selbstkontrolle, den Emotionen und dem Urteilsvermögen führen und auch Regelverstöße begünstigen, was die Wahrscheinlichkeit von Drogenmissbrauch und anderem schädlichen Verhalten erhöht (Cellini 2009). Diese Erfahrungen können den Boden für Persönlichkeitsstörungen bereiten. Diese sind aber nicht zwangsläufig Folge.

Neurobiologie und Psyche

Das Streben nach neuen Erfahrungen ist in der Jugend ausgeprägt (Siraj et al. 2021). Doch ein früher Substanzkonsum lässt das Risiko einer Substanzgebrauchsstörung (SUD) drastisch ansteigen. Beunruhigend, dass Jugendliche in Berlin mit durchschnittlich 14,6 Jahren zu kiffen beginnen (Kalke, Rosenkranz 2023). Ein unreifer präfrontaler Cortex (PFC) gepaart mit einem hyperreaktiven Belohnungs- und Stresssystem erhöht das individuelle Suchtrisiko (Jordan, Andersen 2016).

Die Neigung zu Risikoverhalten und Sucht hat also neurobiologische Entsprechungen. Auf psychischer Ebene findet sich bei Suchtkranken fast immer eine Beziehungsstörung, schildert der langjährige Suchttherapeut Dr. Wolf-Detlef Rost (Rost 2018). Während der Reifungsphase des Gehirns kann traumatisches Erleben die Persönlichkeit nachhaltig prägen – insbesondere, wenn es über einen längeren Zeitraum stattfand. Ein solches Erleben kann die Fähigkeit, vertrauensvolle Bindungen aufzubauen, empfindlich stören. Misstrauen, Resignation und Selbstablehnung können Folgen sein und den Umgang mit sich selbst negativ beeinflussen.

Häufige psychische Komorbiditäten

Etwa 50 bis 60 Prozent der Drogenabhängigen leiden an mindestens einer weiteren psychischen Erkrankung (Pro Psychotherapie e.V. 2013). So ist beispielsweise die Komorbidität von alkoholbedingten Störungen mit affektiven Störungen wie Depressionen überdurchschnittlich hoch. Eine bipolare Störung geht mit einer erhöhten Rate von Alkohol- oder Substanzkonsumstörungen einher, ebenso wie eine Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Auch beim Posttraumatischen Stresssyndrom (PTBS) findet sich ein signifikanter Zusammenhang (Moggi, Preuss 2019). Normale Selbstschutzmechanismen können beim PTBS beeinträchtigt sein, sodass sich Betroffene vermehrt in schwierigen Situationen wiederfinden. Das gilt vor allem für Menschen mit komplexen Traumaerfahrungen. Sie haben früh gelernt, Gefahrensituationen zu navigieren statt ihnen auszuweichen, die Bedrohung als Normalität wahrzunehmen und die eigenen Gefühle und Bedürfnisse zu unterdrücken, um das Wohlwollen ihrer Bezugspersonen zu sichern. Auch Menschen mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung (NPD) neigen vermehrt zu Substanzabusus, häufiger als andere auch zu Kokain (MSD Manual 2022). Die leichte Kränkbarkeit in Kombination mit massiver Selbstüberschätzung und Rücksichtslosigkeit fördert das riskante Verhalten beim NPD.

Leicht übersehen wird ein hoch funktionales, „stilles“ Borderline-Syndrom, das zwar keine offizielle Unterkategorie darstellt, jedoch zunehmend diskutiert wird. Es kann unter anderem zu riskantem Sexualverhalten führen. Betroffene wirken im Alltagskontakt zurückgenommen, nutzen jedoch zum Teil die Sexualität als Mittel, um sich gewollt zu fühlen. Danach erleben sie sich jedoch oft als benutzt oder beschmutzt, woraufhin eine Phase des Rückzugs und der Selbstisolation folgen kann. Das Risiko sexuell übertragbarer Krankheiten ist bei Borderline erhöht, ebenso das Risiko missbräuchlicher Beziehungen oder Gewalterfahrungen (Sansone, Sansone 2011). Menschen mit Persönlichkeitsstörungen benötigen spezielle psychotherapeutische Hilfe.

Häufige Alltagseinflüsse
Alltägliche Dinge können bei ganz normalen Menschen die Risikobereitschaft erhöhen. Dazu gehört ein schlechter Schlaf. Die erhöhte Risikobereitschaft kann subjektiv unbemerkt bleiben (Maric et al. 2017). Weitere Faktoren:

  • Unterschiede im Dopaminsystem, die zu individuellen Unterschieden im Sensation Seeking beitragen, der Suche nach Eindrücken und Erlebnissen (Derringer 2011).
  • Bedarf nach Stresslinderung, was ein häufiges Motiv fürs Rauchen ist, jedoch nicht den gewünschten Effekt bringt (Abstract OA4231 des Kongresses der European Respiratory Society 2023).
  • Neurotizismus. Ein hoher Grad kann Internetsucht begünstigen (de Hesselle 2021). Diese wiederum kann die Belohnungs-, Exekutiv- und Entscheidungsfindungsfunktionen des Gehirns beeinträchtigen (Chen, Dong, Li 2023). Jugendliche könnten aufgrund der geringeren Konnektivität (Yi 2013) unter verminderten Sozial- und Alltagskompetenzen leiden.

Übermäßiges Essen

Jenseits der eben besprochenen Fälle: Was ist eigentlich mit der Vielzahl von Menschen, die aufgrund von übermäßigem Essen unter starkem Übergewicht leiden? Warum schieben sie den Naschteller nicht einfach beiseite? Leider ist das nicht so einfach. Das Wort Esssucht kommt nicht von ungefähr. So führt Zucker zu einer Freisetzung von Dopamin und Opioiden – in bemerkenswertem Umfang. Im Jahr 2002 machte ein Forscherteam um Prof. Carlo Colantuoni im Tierversuch Ratten zunächst süchtig nach Zucker und setzten sie dann auf Entzug. Die Tiere reagierten mit Zähneklappern, Pfotenzittern und Kopfschütteln. Im Jahr 2008 bestätigte eine weitere Arbeit das Phänomen der Zuckerabhängigkeit (Avena et al. 2008), die mittlerweile auch beim Menschen mit bildgebenden Verfahren sichtbar gemacht werden kann. Bei der Zuckersucht könnte es sich also um eine Erkrankung handeln. Als eigenständige Krankheit anerkannt ist die Adipositas (Weltgesundheitsorganisation 2000, Deutscher Bundestag 2020). Adipositas kann die Fähigkeit des Gehirns schädigen, Sättigung zu erkennen und nach dem Verzehr von Fetten und Zucker zufrieden zu sein, wie eine Studie im Journal „Nature Metabolism“ zeigt (Serlie et al. 2023). Auch nach einem Gewichtsverlust bleiben die veränderten Reaktionen bestehen. Betroffene sollten deshalb mit ihren Abnehmversuchen nicht allein gelassen werden. Sie brauchen langfristige Unterstützung, die auch die individuelle, komplexe Entstehungsgeschichte ihrer Adipositas berücksichtigt. Nicht zuletzt spielt das Darmmikrobiom bei ungesundem Essverhalten eine Rolle. Es scheint sogar im anderen Extrem eine Anorexia nervosa beeinflussen zu können (Pederson et al. 2023).

Zwischenfazit

Je nach Sucht liegt der genetisch prädisponierende Anteil bei 40 bis 60 Prozent (Hancock et al. 2018). Impulsivität erhöht die Tendenz zu riskantem Verhalten (Dick et al. 2022), das gilt auch für eine Neigung zu Depressionen oder Ängsten. Das Umfeld in jungen Jahren spielt eine so prägende Rolle, dass angelegte Strukturen bis tief ins Erwachsenenalter hineinwirken. Ein wichtiger Ansatzpunkt sowohl in der Prävention als auch in der Intervention ist die Verbesserung der Emotionsregulation. Besonders wirksam sind multimodale Therapieangebote. Aber schon in der Arztpraxis kann die erste Ansprache die entscheidende positive Wende bringen. Wie dies gelingen kann, ist Gegenstand des folgenden Teils dieser Fortbildung.

Selbstschädigendes Verhalten ansprechen und behandeln

Um das Gesundheitsverhalten positiv zu verändern, muss die Fähigkeit zur Emotionsregulation gestärkt werden. Damit Patienten konstruktive Hinweise annehmen, helfen spezielle Formulierungen.

Eine Dysbalance erfordert Rebalance. Übermäßiger Neurotizismus sollte gebändigt und der Idee, womöglich ein irreparabler Schaden zu sein, etwas entgegengesetzt werden. Denn die richtigen Strategien dienen sogar bei Menschen mit sehr belastenden Hintergründen als wirksame Krücken und können unter Umständen sogar die Neurogenese anregen (Ng et al. 2018). In einem ersten Schritt können Stressoren in der Umgebung evaluiert werden. Bei Menschen mit chronisch maladaptivem Verhalten trägt jedoch der innere Stress wesentlich zum Erleben bei – und verursacht zusätzlichen Stress im Außen. Wie im ersten Teil dieser Fortbildung dargestellt, können ungünstige Bedingungen in Kindheit und Jugend oder auch früher Substanzmissbrauch zu einer Entwicklungshemmung der exekutiven Funktionen und der sozialen Kompetenzen geführt haben. In der Folge können Betroffene beispielsweise dazu neigen, herausfordernde Situationen zu vermeiden, sich von eigenen Gefühlen abzulenken oder diese zu betäuben – etwa durch Alkohol, Drogen, Essattacken, riskantes Sexualverhalten, rücksichtsloses Autofahren oder Selbstverletzungen. Dabei sind sich Menschen mit einer unzureichenden Emotionsregulation ihrer eigenen Impulse unter Umständen kaum bewusst. Dies gilt vor allem dann, wenn diese überkontrolliert oder nach innen, gegen sich selbst gerichtet sind. Psychoedukation kann hier hilfreich sein.

Die Erweiterung des individuellen emotionalen Toleranzfensters (Siegel 1999) trägt dazu bei, Situationen aushalten zu können, ohne sich von ihnen überwältigt zu fühlen. Innerhalb des eigenen Toleranzfensters denken und handeln Personen rational. Wird es überschritten, kommt es zur Dysregulation, zur Hypererregung und intensiven Gefühlen wie Wut, Angst, Panik oder aber zur Hypoerregung: emotionale Betäubung, Abspaltung oder Dissoziation. Verschiedene Techniken zielen darauf ab, die Emotionenregulation einer Person zu verbessern, sodass sie nicht auf ungesunde Bewältigungsmechanismen zurückfällt. Zu diesen gehören Achtsamkeits- und Entspannungsübungen, bei Bedarf auch die Psychotherapie. Ein Hinweis, dass diese angezeigt sein könnte, ist ein ausgeprägtes Schwarz-Weiß-Denken. Die häufige Verwendung von Worten wie „immer“, „nie“, „alles“ oder „ständig“ deutet auf ein extremes inneres Erleben und auf ein Denken in absoluten Kategorien hin, wie es bei Depressionen, Angstzuständen, Borderline-Persönlichkeitsstörungen und Suizidgedanken auftreten kann (Al-Mosaiwi, Johnstone 2018).

Erste Hilfe bei Überwältigung

Erinnert die Amygdala der Person an eine zu scharf gestellte Alarmanlage, so stecken oft widrige Umstände in frühen Lebensjahren dahinter. Als eine Art Erste-Hilfe-Set können bereits vor einer Diagnose Anleihen aus der Dialektisch-Behavioralen Therapie (DBT) wirken. Die zwei Techniken „Mona-Lisa-Lächeln“ und „offene Hände“ sind alltagstauglich und nehmen dem Stress seine Spitze, indem sie das Feedback von Mimik und Körpersprache auf unsere Emotionen nutzen. Das Mona Lisa-Lächeln ist ein leichtes Lächeln mit geschlossenen Lippen, das für 20 bis 30 Sekunden bewusst aufgesetzt wird. Die im Stress zu Fäusten geballten Hände werden bewusst entspannt. Eventuell gekreuzte Arme werden geöffnet. So bringt sich die Person in eine Haltung der Akzeptanz.

Die Dialektisch-Behaviorale Therapie wurde in erster Linie entwickelt, um Menschen mit Borderline-Störung (BPS) und selbstverletzendem Verhalten zu helfen. Sie unterstützt auch die Überwindung von Drogenabhängigkeit (Linehan 1999). Kognitive, verhaltenstherapeutische und psychodynamische Ansätze werden dabei kombiniert, um die Gefühls- und Spannungsregulation zu verbessern. Dazu werden Achtsamkeit, Stresstoleranz, Emotionsregulation und interpersonelle Fertigkeiten trainiert. Ein weiterer evidenzbasierender Ansatz bei Borderline ist die mentalisierungsbasierende Therapie. Sie hilft, die emotionale Dysregulation zu bewältigen und das Selbstbild zu stabilisieren. Patienten und Patientinnen mit hohem Leidensdruck profitieren enorm von evidenzbasierenden Therapien. Werden diese nicht angeboten, enden sie nicht selten bei Selbsttherapieversuchen, etwa in esoterischen Gemeinschaften mit fragwürdigen Weltbildern und Aberglauben. Das birgt eigene Risiken und untergräbt oft die Lebensbewältigung im Alltag.

Veränderung begleiten

Auch bei so schweren Störungen wie Borderline gibt es Hoffnung (Bohus, Reicherzer 2020). Werden BPS-Patienten spezifisch therapiert, erfüllen bis zu 70 Prozent danach nicht mehr die Kriterien dieser Störung. Bei Traumafolgestörungen bieten Ansätze wie EMDR (Eye Movement Desensitation and Reprocessing) oder IRRT (Imagery Rescripting and Reprocessing Therapy) spezifische Strategien zur Traumakonfrontation und Verarbeitung.

Liegt eine Substanzgebrauchsstörung vor, können die physiologischen Auswirkungen unter Umständen zunächst einen begleiteten Entzug erforderlich machen. Doch jenseits dessen profitieren auch diese Patienten und Patientinnen von einer langfristigen Stabilisierung und langjähriger Unterstützung beim allmählichen Aneignen eines gesunden Lebensstils.

Einen Ansatz für das Arzt-Patienten-Gespräch bietet das Transtheoretische Modell der Verhaltensänderung (Prochaska, Redding & Evers, 2015). Es kann für kleine Laster ebenso angewandt werden wie für größere Probleme und begleitet die verschiedenen Phasen des Veränderungsprozesses. Das Modell geht von sechs Stufen des Veränderungsprozesses aus: Zunächst herrscht Absichtslosigkeit vor, es folgt eine erste Intentionsbildung, die noch mit Unsicherheiten zur Umsetzung verbunden ist. Über die Vorbereitung und konkrete Planung der Veränderung gelangt der Mensch zur Durchführung. In den höheren Stufen kommt es dann auf die Aufrechterhaltung und Stabilisierung des Verhaltens an. Diese Phase wird entscheidend von der empfundenen Selbstwirksamkeit beeinflusst. Das Modell hat sich insbesondere in der Suchthilfe bewährt. Darauf basieren auch Programme wie „Hart am Limit (HaLT)“ zur Prävention riskanten Alkoholkonsums bei Jugendlichen sowie ein Leitfaden der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) für Ärztinnen und Ärzte zur Kurzintervention bei Rauchern und Raucherinnen (vgl. BZgA, 2006).

Grafik Stufenmodell Verhaltensänderung

Quelle: BZGA

Reaktanz des Patienten vermeiden

Das Ansprechen des Risikoverhaltens sollte freundlich und nicht urteilend erfolgen. Denn ein allzu tadelnder Blick oder auch sofortige strenge Regeln können zu Reaktanz führen. Dieses Phänomen kann auftreten, wenn sich Menschen in ihren Freiheiten bedroht fühlen. Es handelt sich um einen aversiven motivationalen Zustand (Brehm 1966). Dieser führt zu Handlungen, die die (vermeintlich) bedrohte Freiheit wieder herzustellen versuchen, auch auf Kosten der eigenen Vernunft und Gesundheit. Informationen werden verzerrt und abgewertet. Personen, die generell wenig Kontrolle über ihr Leben empfinden, neigen mehr zur Reaktanz als Personen, die sich als Gestaltende ihres Lebens empfinden (Sittenthaler et al. 2016).

Um einen Jetzt-erst-recht-Effekt zu vermeiden, sollte also der subjektiv empfundene Freiraum nicht eingeschränkt, sondern gestärkt werden (vgl. Sischka et al. 2016). Das kann beispielsweise mit einem sogenannten „gain frame“ statt „loss frame“ (Stocké 2002) gelingen. Der Fokus sollte also auf dem möglichen Gewinn durch eine Veränderung liegen und nicht auf dem, was weggenommen wird. Ganz besonders ungünstig sind verneinende Imperative: „Trinken Sie nicht so viel!“

Negierungen sollten vermieden werden (Dudschig et al. 2021), denn das Verstehen von Verneinungen rekurriert auf inhibitorische Hirnsysteme, die auch für die Impulskontrolle entscheidend sind. Formulieren Sie positiv, was umgesetzt werden soll. Schon das schafft gefühlten Freiraum – etwa der Vorschlag: „Gönnen Sie sich einen Entspannungskurs.“ Menschen, die zu Sensation Seeking neigen, profitieren von neuen Ideen beispielsweise zu Aktivurlauben, sofern der körperliche Zustand dies erlaubt. Das stärkt auch die planerischen Fähigkeiten. Ebenfalls gut angenommen werden häufig Hinweise auf positive Erfahrungen der Vergleichsgruppe („Die meisten Patienten mit diesem Beschwerdebild fahren damit gut.“) (vgl. Goldstein, Cialdini, Griskevicius 2008).

Lustvoll Gesundes entdecken

Basis für die Stabilisierung sollte möglichst eine feste Tagesstruktur sein; die Balance zwischen Anspannung und Entspannung, Bewegung und Ruhe sowie ein guter Schlaf. Diese Maßnahmen sollten angenehm oder lustvoll gestaltet werden. Denn so wird das limbische System zum Verbündeten. Das Erforschen neuer, gesunder Genüsse ist ein besonders effektiver Weg zur nachhaltigen Veränderung.

Achtsamkeit: Gefühle beobachten, ohne sich mit ihnen zu identifizieren
Risikoverhalten wie Substanzgebrauchsstörungen geht oft mit Komorbiditäten wie Depression, Angststörung, bipolarer Störung und Traumafolgestörungen einher. Hier kann das Üben von Achtsamkeit besonders wertvoll sein. Auf diese Weise machen Betroffene die Erfahrung, etwas aushalten und sich selbst kontrollieren zu können, ohne ihre Gefühle unterdrücken zu müssen. Die Emotion wird erkannt und akzeptiert. Sie darf gefühlt werden. Ihr wird Raum gegeben, bis sie irgendwann von selbst vorbeizieht. Eine Emotion, auch eine intensive, erfordert also nicht unbedingt (sofort) eine Handlung. Man kann auch eine Weile lang einfach damit sitzen. Der Atem dient dabei als Anker, weshalb angeleitete Übungen meist zum Beobachten des Ein- und Ausatmens auffordern. Auch das Gefühl selbst kann im Körper beobachtet werden: Wo spüre ich eine Anspannung? Um Überwältigung zu vermeiden, hilft das Erden mithilfe der fünf Sinne: Was kann ich gerade vor mir sehen, fühlen, anfassen, hören, riechen, schmecken?

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